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Was die Immobilien- und die HR-Branche von Datingapps lernen können
Marc Stoffel im Interview
Was die Immobilien- und die HR-Branche von Datingapps lernen können
Was haben Jobs mit Wohnungen gemeinsam? – mehr als Bewerbungsprozesse, wie sich im folgenden Interview zeigt.
Marc Stoffel braucht Bewegung. In jeglicher Hinsicht. Veraltete Prozesse ziehen ihn geradezu an. Um sie anzupacken und von Grund auf neu zu denken. Bis vor kurzem noch CEO beim Talent-Management-Spezialisten Haufe-umantis, will es Marc im Jahr 2021 nochmals wissen und krempelt mit seinem «Tinder für Talents & Teams» die Jobsuche und das Recruiting gehörig um (mehr dazu unter dream-teams.com).
Im Interview spricht Marc über die verzögerte Digitalisierung der HR-Branche und schlägt Brücken zur Immobilienwelt.
Andreas Trunz, 02. März 2021
Zuerst mal vorweg: Marc, was verstehst du allgemein unter gelungener Digitalisierung?
Vielleicht zuerst was nicht: “Wenn man einen stupiden Prozess digitalisiert, dann hat man einen stupiden digitalen Prozess.”
So einfach das klingt, so oft passiert jedoch genau das. Ob im HR oder bei der Wohnungssuche. In der ersten Welle der Digitalisierung hat man Effizienzen für Intermediäre gesteigert (im HR sind das HR-Abteilungen, in der Immobilienbranche Verwalter und Makler). Ich denke die Zeit ist reif für eine zweite Welle. D.h. im HR: Warum nutzen wir Technologie nicht dafür, die MitarbeiterIn, Bewerber oder die Teams glücklicher und erfolgreicher zu machen? In der Immobilienwelt wäre das der Wohnungssuchende bzw. die Verkäuferin und Vermieterin.
Welche Parallelen siehst du zwischen der Immobilienbranche und Human Resources…
…in den Branchen allgemein?
Dass Veränderungsprozesse heute noch zu stark aus Sicht von Experten betrachtet werden. Diese haben oft die Macht, Digitalisierungsprojekte zu steuern und zu entscheiden, ob und wie diese finanziert werden. Deshalb sehen Lösungen auch noch so aus: Sie machen vor allem die Welt der Experten besser.
…und in Bezug auf Bewerbungs-, Beurteilungs- und Selektionsprozesse?
Hier hat sich sicherlich durch die erste Welle der Digitalisierung einiges verbessert. Die genannten Prozesse sind einfacher und schneller geworden (= Evolution). Auch gibt es Job- bzw. Wohnungs-Suchabos, was für Suchende sicherlich einiges vereinfacht. Eine wirkliche REvolution an breiter Front steht in beiden Märkten allerdings noch an.
Wie weit ist die HR-Welt in Sachen Digitalisierung?
Erste Welle: Über den Zenit, hier wird wahrscheinlich tendenziell eher wieder zurückgebaut, vereinfacht und verschlankt.
Zweite Welle: Noch ganz am Anfang, bzw. noch nicht einmal, weil man sie noch gar nicht sieht, geschweige denn anpackt.
Welche Art Player führen in Sachen Digitales Recruiting das Feld an?
Das ist durchmischt. Bei der Digitalisierung von bestehenden Prozessen gibt es einige grosse dominante Player, jedoch auch viele Startups, die das oft günstiger, eleganter und auch lokal besser machen.
Bei technologisch komplett neuen Ansätzen, welche direkt auf den Bewerber oder die Teams fokussieren, sind es zunehmend Start-ups.
PropTech-Maps zeigen auf, wie unübersichtlich die Branche innert kurzer Zeit geworden ist. D.h. viele Player mischen den Markt auf und fragmentieren ihn. Experten gehen von einer baldigen Konsolidierungsphase aus, resp. zeichnet sich diese bereits in Ansätzen ab.
Siehst Du im HR-Bereich diesbezügliche eine ähnliche Entwicklung?
Wahrscheinlich ist der HR-Markt ca. fünf Jahre voraus. Nach dem ersten grossen Hype gab es bereits kräftige Konsolidierungswellen und auch Corona wird diese zusätzlich beschleunigen.
Erwartest du noch signifikante Innovationen oder gar eine Disruption im Bereich Recruiting?
Ja, schauen wir doch mal die heutigen Missstände an: Eine sorgfältig eingereichte Online-Bewerbung erhält durchschnittlich innerhalb einer Woche meist eine automatische Antwort. Bei vielen erst nach drei Wochen – so etwas schreit doch nach Innovation, speziell wenn alle über Fachkräftemangel jammern!
Wie schätzt du diesbezüglich die Immobilienbranche ein?
Ich denke ähnlich wie die Recruiting-Branche. Für die aktiv Suchenden gibt es vernünftige Lösungen: Man macht sich ein Suchabo und durchstöbert die bekannten Plattformen. Wenn man sich dann bewirbt wird es schon mühsamer und viele sind vom Prozess enttäuscht. Für den Grossteil des Marktes, nämlich den, der nicht aktiv sucht, gibt es praktisch keine Lösungen.
Wir werden immer wieder mit der Befürchtung konfrontiert, der Mensch könnte im ganzen Digitalisieren von Bewerbungs- und Vermietungsprozessen verloren gehen.
Kommt Dir das bekannt vor?
Ja, das kommt mir sehr bekannt vor.
Ich habe folgende These: Wenn Teams bzw. Vermieter sagen, menschliche Faktoren seien ihnen wichtig, dann müsste man diese zu Beginn der Bewerbungs- und Beurteilungsprozesse prüfen und nicht wie heute erst sehr spät. Sonst müsste man diese Aspekte komplett rausnehmen, um nicht Gefahren wie Halo-Effekt oder Stereotypisierung zu verfallen.
Heute sehe ich oft faule Kompromisse in der Beurteilung von ‘harten’ und ‘weichen’ Faktoren.
Müssen Jobsuchende künftig ihren CV für Beurteilungsalgorithmen optimieren?
Das halte ich beim bestehenden Ansatz (leider) für erfolgversprechend, da der CV neben dem Foto meist das einzig vorhandene Vorselektions-Kriterium einer Bewerbung ist. Wenn man bedenkt wie vielfältig und komplex die heutigen Herausforderungen in der Arbeitswelt sind, halte ich das für geradezu grotesk.
Du sagst es gibt Branchenlösungen, die Bewerbungen vorselektieren. Welche Kriterien spielen hier eine Rolle?
Foto, Job-Titel, Anzahl und Dauer der Berufsstationen, Ausbildungsabschlüsse. Es gibt auch oft einen Skill-Abgleich zwischen Soll (Stelle) und Haben (CV), welcher in den seltensten Fällen funktioniert.
Führen Dir bekannte Unternehmen ähnlich wie z.B. Wohnbau-genossenschaften klar formulierte Kriterienkataloge / Vergabeleitfäden?
Ja die meisten setzen auf stellenspezifische Fragen, das heisst, man fragt den Bewerber drei bis vier Schlüsselkriterien bei der Onlinebewerbung ab. Das halte ich für einen pragmatischen und vernünftigen Weg. Wenn er dazu führt, dass passende BewerberInnen innerhalb von Minuten in ein menschliches Interview gelangen und alle anderen sofort eine Absage erhalten.
Wie soll denn Technologie der Tatsache gerecht werden, dass ‘weiche Faktoren’ mitentscheiden?
In dem sie zum Beispiel Menschen zusammenbringt, die nie darüber nachgedacht hätten sich zu unterhalten. Hier spreche ich sowohl die aktiv wie auch nicht-aktiv Suchenden an.
Wie kann Technologie im HR oder im RE konkret Menschen zusammenbringen?
Ich denke hier können beide Branchen sehr viel von Dating-Plattformen lernen: Früher haben Dating-Lösungen versucht den besten mathematischen Match zu erzielen, was oft aufwändig war und nicht funktioniert hat. Tinder hingegen hat dies umgedreht: Fotos für das erste Bauchgefühl und bei einem Match möglichst schnell ein persönliches Kennenlernen. Warum funktioniert Job- bzw. Wohnungssuche nicht so?
Wie kann HR-Tech Unternehmen ausserhalb der Zentren helfen, an die besten Talente heranzukommen?
Durch das Bekanntmachen und Matchen von spannenden Angeboten (Teams, Jobs, Gigs) mit Talenten. Die Zeiten, wo die grössten Talente alle zu den gleichen Firmen wollten, sind endgültig vorbei – nur gibt es noch keine Lösung, wie man die Top-Talente zu den unbekannten Start-ups oder KMUs bringt.
Bei der Wohnungsvermietung kann die Auswahl eines falschen Mieters zu enormen Zusatzkosten führen – genauso in der Personalauswahl.
Was rechnet man im Schnitt im HR an Mehrkosten bei einer Fehlentscheidung?
Bei wichtigen Projekten und Positionen verliert man durch Fehlbesetzungen oft Jahre. Ich habe das insbesondere bei der Einstellung von Führungskräften und Top-Fachspezialisten beobachtet. Die Erfolgsquote liegt bei ca. 50 bis 75% und die Kosten kann man eigentlich nicht wirklich kalkulieren, aber sie betragen Faktoren des Jahresgehalts. Sicherlich ist es deshalb korrekt zu sagen, dass gutes Recruiting die mit Abstand wichtigste Führungsaufgabe ist.
Vielen Dank für das Interview und die spannenden Einsichten, Marc!
Privat ist Andreas Papa von 2 kleinen Kids und leidenschaftlicher Bergsportler. In seiner freien Zeit ist er gerne im schönen Alpstein beim Klettern, Bergsteigen und auf Skitour anzutreffen. Andreas hat bei emonitor den Sales- und Marketingprozess definiert und ist ein überzeugter Verfechter der Inbound Strategie.